Du bist nicht so wichtig

von Andreas Wolff

Die Corona­pan­de­mie stellt für mich neben Ein­schrän­kungen und Lebens­ver­ände­rungen auch einen psychosozialen Prozess dar, der die Ausbreitung der fünf Wahrheiten der Initiation in all ihrer Härte und Radikalität in mir und hoffentlich in anderen befördert!

Der Virus trennt Wesentliches von Unwesentlichem! Er zeigt mir wieviel selbst erschaffenen Ballast ich mit mir herumschleppe. Ein Ballast, der zur physischen, psychischen und spirituellen Erschöpfung führt. Immer wieder falle ich (du auch?) buchstäblich ins Hamsterrad von Existenzoptimierung, Geld verdienen, Besitz mehren, noch mehr Geld verdienen müssen, um Besitzerhaltung und Besitzmehrung fortzusetzen. Auch ich bin Kind unserer Gesellschaft. Die fünf Wahrheiten der Initiation lehren mich, die selbst erschaffenen Probleme und den Ballast eines in die Irre geleiteten Egos hinter mir zu lassen und zum wahren Selbst zu gelangen. Es GENUG SEIN LASSEN ist eine Tugend davon. Ich frage mich, ob ich zu den reifen Männern am Rande der Gesellschaft gehöre, zu den Ermutigern, die dort für die Reifung Anderer kämpfen?

Richard Rohr hat mich mit der dritten Wahrheit der Initiation – Du bist nicht so wichtig – ermahnt:
Demut (englisch humility) ist von zentraler Bedeutung für die menschliche Wahrhaftigkeit und das menschliche Glücklichsein. Du bist aus der Erde (Humus) geformt, deine einzige Würde besteht darin, dass du ein menschliches (humanes) Wesen bist, das von Gott innig geliebt wird. Alles andere ist (sinnloses) Beiwerk. Du schuldest dem Leben, der Schöpfung, den Anderen, dir selbst und Gott Respekt. Aber erwarte und fordere diesen Respekt nicht von Anderen. Du hast nicht das „Recht“ auf irgendetwas, außer dem Recht, das dir das Evangelium gibt: zu lieben und zu vergeben.

Ken Wilber stellt in seiner integralen Theorie folgende drei Fragen:
Dient es mir?
Dient es meiner Gruppe?
Dient es dem Großen und Ganzen?

Zwei Menschen mit ganz ähnlichen Intensionen zur selben Thematik. Beide ermutigen mich, ein wahres sinnstiftendes Leben zu führen, das mich, meine Mitmenschen und die gesamte Schöpfung mit all ihren Pflanzen, Tieren, Elementen, Verbindungen und den komplexen Wechselwirkungen erhält.
Reife Menschen beantworten die Fragen von Ken Wilber bei ihren Entscheidungen in der Regel mit dreimal JA! Reife Menschen lieben und vergeben immer wieder, weil sie selbst ihren Weg aus der Unreife, den Weg vom Kind zum Mann gegangen sind. Wie fallen deine Antworten aus, liebst und vergibst du?

Corona zeigt die Unreife unserer Gesellschaft in nie dagewesener Härte und Klarheit. Wie kleine Kinder jammert die Gesellschaft nach den täglichen Lustbarkeiten, den Schlagzeittotbeschäftigungen, dem immerwährenden Konsum. Die Chance in dieser Krise sehen wenige. Auf dem Hintergrund der fünf Wahrheiten der Initiation darf ich mich weder wundern noch erschrecken, es darf mich auch nicht in psychosoziale Nöte bringen, denn das Handwerkszeug zum reifen Leben habe ich in Oberwildflecken, am Brahmsee oder anderswo durch die Initiation erworben.
Rostet dein Werkzeug bei dir nun vor sich hin, haben die Motten es schon gefressen? Hast du ihm gar einen Ehrenplatz gegeben und behandelst es wie eine Bibel im Goldschnittformat? Zeigt dein Werkzeug Gebrauchsspuren, ist von dir optimiert worden und dein täglicher Begleiter?

In der Entstehungszeit des neuen Testamentes traf der Autor des Hebräerbriefes auf eine ähnliche Situation und schrieb dazu im Kapitel 5, 12-14
„Eigentlich müsstet ihr längst in der Lage sein, andere zu unterrichten; stattdessen braucht ihr selbst wieder jemand, der euch die grundlegenden Wahrheiten der Botschaft Gottes lehrt. Ihr habt sozusagen wieder Milch nötig statt fester Nahrung. Wer nur Milch verträgt, ist ein Kind und hat noch nicht die nötige Erfahrung, um sein Leben so zu gestalten, wie es nach Gottes Wort richtig ist. Feste Nahrung hingegen ist für Erwachsene, für reife Menschen also, deren Urteilsfähigkeit aufgrund ihrer Erfahrung so geschult ist, dass sie imstande sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“

Ein Investment in die Aufforstung des Regenwaldes dient dem Großen und Ganzen mehr als die Urlaubsreise dorthin. Die Förderung von sozialem Wohnungsbau befördert Frieden in der Gesellschaft und schafft menschenwürdiges Dasein. Lernpatenschaften führen junge Menschen in die eigene Unabhängigkeit. Welchem Mann stehst du und ich in dieser Krisenzeit bei? Welchen Mann führen wir durch das Zeugnis des eigenen Lebens in die Reife und werden durch das eigene Beispiel zur Chance für ihn?

Lasst uns also zu den Männern gehören, die das Gute von der Vor-Coronazeit würdigen und behalten, das Untaugliche loslassen und lasst uns Neues schaffen, was mir, dir, uns und dem Großen und Ganzen dient. Mit Liebe und Vergebung wird es gelingen.

Andreas Wolff
Leipzig, Februar 2021