Hüter der Schwelle

8.5.24 nach dem Firming in Eisenach
Hüter der Schwelle
Walter räuchert mich und Bernhard trennt mit der Rute meine Bande zur diesseitigen Welt, mit den Segenssprüchen dieser gütigen Männer trete ich frohgemut über die Schwelle in die Anderwelt, hinaus in die Wildnis – allein mit mir und der Natur, ohne Zelt, ohne Feuer, ohne Essen, ohne Uhr. Einen schönen Platz finde ich stromaufwärts direkt am Bach,
die Jagdhütte in Sichtweite oben am Berg beunruhigt mich zu Unrecht, aber die Wildschweinsuhle direkt hinter dem Baum, an dem ich meine Plane befestig habe lässt mich nach kurzer Abwägung alles wieder abbauen und weiterziehen.
Meinen Platz finde ich dann auf dem Kamm mit Blick auf den Bach, ein umgestürzter toter Baum und davor ein ganz kleiner neugeborener, der gerade seine Blütenknospen öffnet laden mich ein: hier zwischen Tod und Neugeburt bin ich richtig.
Als alles getan ist und ich sitze, auf das Wasser hinunterschaue und den Vögeln lausche stellen sie sich ein, meine Hüter der Schwelle, und da sind sie: Kälte und Unruhe. Es geht mir immer schlechter, weiß mich nicht zu lassen, werde nicht warm, finde keine Ruhe. Der graue Himmel lässt keine Tageszeit erahnen, die Kälte dringt mir in die Glieder, rastlos treiben die Gedanken. Schließlich erkenne ich meine alten Familienmitglieder: die Kälte des Vaters und die Unruhe der Mutter. Komm in die Gänge, Andreas, benutze deinen Verstand, deine Erfahrung und deine Kraft, deine Sinne und deine Intuition! Mit Singen und Beten, Atmen und Tai Chi werde ich ein bisschen wärmer, Ich schreibe ein Gedicht über den munteren Bach im Tal und sein vielstimmiges Gebrabbel und Gekicher. Ich begrüße die großen
Buchen, Eichen und Ulmen auf meinem Kamm und begreife, warum ich unten am Bach nicht bleiben konnte: hier, unter den Männern ist mein Platz, hier werde ich ruhig. Das Weibliche unten im Tal grüße ich von hier mit Dankbarkeit, Freude und Respekt.
Ich finde einen schönen langen Strecken und trete in den Kreis der großen Bäume. Ich bitte um ihre Weisheit und Kraft und um ihren Segen. Ihre Großzügigkeit wärmt mich und ihr freundlicher Spott macht mich ruhig. Nur Männer können Männer heilen, sagt Bernhard später. Die Kälte verlangt nach meiner Wärme, und ich verspreche, ich gebe weiter, was ich bekommen habe. Der Herr ist mein Hirte, aber mein Stecken und Stab werden die Zuversicht weitergeben.
Früh bin ich wach, packe meine Sachen und sitze: das Morgenkonzert der Vögel, die vielen kleinen Stimmen des Bachlaufs im Tal, der heitere Ernst der großen Bäume auf der Höhe, die dunklen umgefallenen Stämme und unter ihnen die Schösslinge mit ihrem frischen Grün.
Dann ruft mich Manfreds Trommel, Bernhard begrüßt mich an der Schwelle, reich beschenkt kehre ich zurück zu den Menschen.

Andreas

Bachlauf, du munterer
spül meine Schmerzen
wieder zurück zu mir
zu lange steckten sie fest
unter dem Staudamm der Lüge.

Zu lange saß ich am breiten Fluss
der unterworfenen Städte
gefügig gemacht durch den
steinernen Frieden trug er
die Lastkähne wie ein stummes Tier

Du aber kleiner Bach
du gluckst und kicherst
bei jedem neuen Hinternis
und dein vielstimmiges Gelächter
heilt mein schmerzloses Leid.

Andreas

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